Kettcar - Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)
Veröffentlicht am: 17. Mai 2019
Tracklist
01. PALO ALTO
02. SCHEINE IN DEN GRABEN
03. NOTIZ AN MICH SELBST
04. NATÜRLICH FÜR ALLE
05. WEIT DRAUSSEN
Medien
Beschreibung
Wie viele Seiten hat eine Medaille? Wie oft muss man die Perspektive wechseln, um die Dinge klarer zu sehen? Und wer war eigentlich zuerst da: Das private Ei oder die politische Henne? Mit „Ich vs. Wir“ haben Kettcar im Sommer 2017 ein Standardwerk in Sachen „Musik zur Zeit“ veröffentlicht. Ein Album, das gleichzeitig Bestandsaufnahme und Vision war. Das sich klar positionierte und laut Nein sagte zu der Art und Weise, wie derzeit viel zu viele (Un-)Menschen Gesellschaft definieren. Und das einer zweifelnden Band, die ziemlich nahe am Abgrund taumelte, erst einen Fallschirm zuwarf und sie dann nach vorne schubste: Auf jetzt, da geht noch was!
Eineinhalb Jahre später gibt es nun fünf neue Songs von Kettcar, die sinnigerweise mit „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)“ betitelt sind. Fünf Songs, die sich denselben Themen – Leben, Kapitalismus, der ganze Rest – widmen, dafür aber den Fokus ändern, ordentlich am Zoom drehen und von Makro auf Mikro umstellen. Um es gleich klarzustellen: Diese EP ist keine Fortsetzung, kein Weiterdreh, und auch kein Überbleibsel. Die fünf Songs sind frisch und neu, keine alten Skizzen oder verworfenen Ideen. „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)“ ist eher ein Komplementärwerk, das den Vorgänger ergänzt und neue Bedeutungsebenen aufmacht, aber auch gut und gerne für sich alleine steht. Dass sich der Blickwinkel nun ändert und mehr die Rolle des Einzelnen beleuchtet, hat mit einem etwaigen „Rückzug ins Private“ allerdings gar nichts zu tun. Diese Frage ist für Kettcar längst beantwortet: Das Private ist natürlich immer auch politisch.
Dass Kettcar ihre Fähigkeiten als Storyteller im Laufe der Jahre immer weiter verbessert und verfeinert haben, zeigt gleich der Eröffnungssong „Palo Alto“, in dem die unterschiedlichsten Digitalisierungsverlierer in einem Waschsalon versammelt werden: Ein Kulturjournalist, ein Pornosternchen, ein Plattenhändler und ein Bankangestellter nehmen ihre Plätze ein auf der Liste der aussterbenden Berufsarten. Überall abgemeldet, nur nicht beim Jobcenter. War früher alles besser? Für die vier wahrscheinlich schon. Wobei die Frage ist, was einem übrig bleibt: Nach Kalifornien ins Mekka der IT-Industrie fahren und den ganzen Laden in die Luft sprengen? Oder die Waffe nach innen, auf sich selbst richten, und die blutige Stille genießen, wenn die Erde aufhört sich zu drehen? Der Referenzbogen, den Kettcar hier schlagen, reicht von Vernon Subutex über Gina Wild bis zu Herrn Kaiser, dem Werbemaskottchen der Hamburg-Mannheimer – das muss man auch erstmal hinbekommen, ohne in Kitsch oder Albernheiten zu versinken.
„Scheine in den Graben“ verhandelt das Thema Menschlichkeit und humanitäre Hilfe mit Blick auf Charity-Events und das illustre Personal, das sich dort tummelt: Reich an Aktien, reich an Barmherzigkeit. „Tue Gutes und rede darüber“ ist in diesem Zusammenhang ein gern benutzter Slogan - der von Kettcar natürlich hinterfragt wird. Darf man sich gut und erhaben fühlen und sich selbst dafür feiern, dass man Wohltaten vollbringt? Und was ist davon zu halten, wenn das Ganze zu einem neokapitalistischen Nullsummenspiel verkommt, bei dem die Perlenohrring-Lady aus Blankenese mit großer Geste die Not zu lindern versucht, die ihr Mann mit seinem globalen Finanzdienstleistungsunternehmen mitverursacht hat? Moderner Ablasshandel, anyone? Wobei natürlich die Frage bleibt, ob es die Menschen im Norden Ruandas wirklich kümmert, ob das Geld für ihren neuen Brunnen von Ute Ohoven besorgt wurde oder von einer Menge anonymer Spender ohne Kamerabegleitung. Da ist er wieder, dieser süße Duft, dem Kettcar in diesem Song nicht alleine nachspüren, sondern mit Verstärkung: Im Hintergrund schreit David von Fjørt, die dritte Strophe singt Schorsch Kamerun, und am Ende geben sich beim Refrain Jen von Großstadtgeflüster, Bela B, Jörkk von Love A, Sookee, Felix von Kraftklub, Marie von Neonschwarz, Gisbert zu Knyphausen und Safi die Zeilen in die Hand. Eine Runde, die unterschiedlicher kaum sein könnte und so wohl nur auf einem Kettcar-Song zusammenfinden konnte.
„Notiz an mich selbst“ ist dann klassisch Kettcar, und zwar im besten Sinne: Ein Essay über Kunst und Moral, Potenzial und Ideale - und was davon übrig bleibt, wenn man nicht aufpasst. Ist am Ende mehr vorhanden als die Frage, ob man alles aus sich gemacht hat und ob man der geworden ist, der man werden wollte? Oder lauert in solchen Sätzen dann schon wieder die Floskelfalle, das neoliberale Selbstoptimierungsgelaber? Man zuckt die Schultern, hört sich den Song direkt noch einmal an und zieht den Hut vor einer Band, die man längst auch nach literarischen Kriterien bewerten kann. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Zeilen „Egal, jeder fühlt sich schuldig / Waren’s alle, war’s keiner / Und der Wolf im Schafspelz hat den gleichen Schneider“, die in ihrer Bildhaftigkeit, ihrem Assoziationspotenzial und ihrem Kern aus Haltung, Fantasie und Freude an der Sprache einen Ablauf in einem auslösen, den nur große Texte schaffen: Lesen, Hängenbleiben, Nachdenken, erneut Lesen, Einpacken, Immer-mit-sich-herum-Tragen. Nicht das Ausrufezeichen und der Punkt, sondern das Fragezeichen und das offene Ende sind hier das Stilmittel. Hier geht es eben nicht darum, Komplexität zu reduzieren, wie das Journalisten so gerne machen. Die Wirklichkeit wird nicht zugespitzt, sondern aufgeschlitzt – wie ein Sofakissen, dessen Federn und Innereien dann herausquellen und wild durch die Wohnung schweben und nicht mehr eingefangen werden können.
Vor eineinhalb Jahren sangen Kettcar in „Die Straßen unseres Viertels“: „Der Bio-Supermarkt ist nichts für Schwächlinge“. Und hierhin kehrt die Band in „Natürlich für alle“ zurück und geht eine Runde einkaufen, während auf den Beats-Kopfhörern Adorno schlaue Sätze deklamiert. Ob es ein richtiges Leben im falschen gibt, ist eine Frage, über die Kettcar seit ihrer Gründung immer wieder nachdenken, und die hier konkret in der Warenwelt verhandelt wird: Gibt es so etwas wie kritischen Konsum? Kann man „korrekt kaufen“ – und wenn ja, bringt das wirklich Veränderungen? Oder beruhige ich damit nur mich selbst und mein schlechtes, kapitalismuskritisches Gewissen? Und warum zur Hölle wirft mein ethisch korrekter Hedgefonds so wenig Rendite ab? Gestützt von einem treibenden Synthie-Fundament, ist der Song wie für die Indie-Pop-Dancefloors gemacht und zeigt deutlich, dass Kettcar immer wieder neue musikalische Ansätze verfolgen – und das auch nach knapp 20 Jahren.
Den Abschluss dieser EP bildet „Weit draußen“, und tatsächlich kann danach erst einmal nichts kommen. Reduziert, vorsichtig und sensibel erzählt die Band die Geschichte eines Wiedersehens mit einer alten Freundin, die mit ihrem behinderten Sohn auf Land zieht, um sich den Mitleidsblicken zu entziehen. All die Wut und Scham und Verzweiflung und Verlogenheit einer solchen Situation wird spürbar. Und Zeilen wie „Ich schwör, ich liebe mein Kind / Aber ich hasse mein Leben“ oder „Zeig mir einen Helden / Und ich schreib dir `ne Tragödie“ sind dann endgültig der Stoff, der sechs Sorten Tränen aus einem rausprügelt.
EPs sind manchmal Zwischenschritte, manchmal Fingerübungen, manchmal nicht viel mehr als ein Lebenszeichen. Hier liegt der Fall allerdings anders. Denn „Der süße Duft der Widersprüchlichkeit (Wir vs. Ich)“ hat eigentlich alles, was ein komplettes Album braucht: Struktur, Tiefe, inhaltliche Balance und musikalische Abwechslung. Das einzige was man darauf vermisst, sind ein paar weitere Songs.
Ingo Neumayer
VÖ: 17. Mai 2019